M. Stuber u.a. (Hrsg): Kartoffeln, Klee und kluge Köpfe

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Titel
Kartoffeln, Klee und kluge Köpfe. Die Oekonomische und Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Bern OGG 1759-2009


Herausgeber
Stuber, Martin; Moser, Peter; Gerber-Visser, Gerrendina; Pfister, Christian
Erschienen
Bern 2008: Haupt Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Heinrich Richard Schmidt, Historisches Institut, Universität Bern

Es geht in diesem Sammelband nicht nur um Kartoffeln und Klee, sondern um eine Vielzahl von Gegenständen, Pflanzen, Tieren, Maschinen, die in für die Vormoderne scheinbar untypischer Weise spielerisch-experimentell erforscht oder erfunden wurden. Das Buch vermittelt den Eindruck, als sei fast kindliches Entdeckertum am Werk gewesen. Die «klugen Köpfe», von denen der Bandtitel spricht, das sind also weniger «Weise» als Neugierige, die das Gewohnte hinterfragen, Neues erstreben, alles für verbesserungswürdig, aber auch –fähig halten.

Bei diesen «klugen Köpfen» handelt es sich um junge aufstrebende Männer (seltener Frauen), meist aus dem Patriziat der Stadt Bern, aber auch um Pfarrer und eine neue Bildungselite aus dem Reservoir der Untertanenschaft des Stadtstaates Bern. Organisiert hatten sie sich in der Oekonomischen Gesellschaft, 1759 gegründet und in veränderter Form bis heute bestehend, einer der im 18. Jahrhundert häufigen Aufklärungsgesellschaften, in diesem Fall mit einem starken Interesse an Fragen der landwirtschaftlichen Ökonomie. Ihre Reformund Verbesserungsvorschläge zielten nicht auf eine Veränderung der Herrschaftsstrukturen, sondern wollten «systemimmanente», z.T. auch kleinteilige Verbesserungen, Modernisierungen und Rationalisierungen der Praxis der Staatsverwaltung und der Agrarökonomie. Die OeG, wie die Gesellschaft gemeinhin abgekürzt wird, war also eine Art Think Tank der Berner Republik. Sie wurde, wie die aktuelle, noch im Druck befindliche Dissertation von Regula Wyss zum Thema «Reformprogramm und Politik. Möglichkeiten und Grenzen der Umsetzung von Reformideen der Oekonomischen Gesellschaft Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts» zeigt, von den Regierenden nicht immer gerne gesehen und bei grundsätzlicheren Reformideen auch rasch in ihre Schranken gewiesen.

Das macht auf den beschränkten Reformwillen der herrschenden Patrizier aufmerksam. Zugleich und im Gegensatz dazu entwickelte die OeG einen Schatz an Wissen im administrativen Bereich, stärker aber noch im konkreten Handlungswissen über Techniken der Landwirtschaft. Die OeG ist damit typisch für die Volksaufklärung, eine besonders im deutschsprachig-mitteleuropäischen Raum vielfältig erforschte Bewegung (Böning, Siegert, Schmitt, Im Hof, De Capitani, Erne).

Der Sammelband enthält in seinem Hauptteil 50 Porträts der «klugen Köpfe». Die Verfasser streben damit ganz bewusst «Elogen» der dargestellten Persönlichkeiten an und wollen «Glanz» auf die OeG oder OGG («Oekonomisch Gemeinnützige Gesellschaft», wie die Organisation seit 1892 heisst) fallen lassen. Und man kommt nicht umhin zu sagen, dass das gelingt. Zugleich dienen sie damit einem aktuellen Trend der Historiographie, die handelnden Akteure in der Geschichte sichtbar zu machen und dabei nicht nur die «grossen Männer », aber eben auch nicht die anonymen Strukturen in den Vordergrund zu rücken.

Vorgestellt werden Personen, die z.T. auch aus dem bäuerlichen Bereich stammten wie der Bauer Peter Sommer, selbst illiterat, der zu wissenschaftlichen Ehren kam, indem er ein «Hebezeug» zum Aussreissen von Baumwurzeln entwickelte (S. 63–66, Martin Stuber). Oder Pfarrer wie Johannes Ernst, die die traditionellen Volkskalender nutzten, um diese von abergläubischen Regeln geprägtenPublikationsorgane zur Propagierung von neuen Anbaumethoden zu nutzen und insgesamt der Aufklärung des – wenig positiv geschilderten – Volkes zu dienen (S. 67–70, Regula Wyss). Ein wichtiges und bleibendes Verdienst gebührt den Zweiggesellschaften der OeG für ihre Topographischen Beschreibungen der Berner Landschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, die im Band von Gerrendina Gerber-Visser vorgestellt werden (S. 71–74), die zu diesem Thema dissertiert hat. Mit Cathérine-Elisabeth Vicat-Curtat kommt auch eine Ökonomin zu einer Eloge, welche künstliche Bienenkästen entwickelte, nachdem sie in ihrem Garten mit Bienenstöcken experimentiert hatte (S. 83–86, Barbara Braun-Bucher).

Diese wie alle folgenden Skizzen bieten jeweils einen kurzen biographischen Abriss und stellen die wichtigsten Projekte oder Schriften der Persönlichkeiten vor, sind reich bebildert und als Nachschlagewerk nützlich – ganz im Sinne des ökonomischen Patriotismus. Bei den Themen handelt es sich um solche aus der Forstwirtschaft und dem Ackerbau (etwa zur Düngung, besonders zu Emmentaler Musterbauern und der Mergeldüngung, S. 103–106, Daniel Salzmann, oder zur Stallfütterung S. 111–114, Christian Pfister), wobei auch die Kartoffel (S. 123–126, Martin Stuber) und der Klee (im Kapitel «Stallfütterung» unter dem Stichwort «Kunstwiesen») gewürdigt werden. Dann gibt es Kapitel zur

Viehzucht und schliesslich zu Klimabeobachtungen, die bis heute von Nutzen sind, weil sie wie die Kirschblütendaten der Klimageschichte wertvolles Material liefern (S. 107–110, Max Burri, This Ruttishauser)

Aus der Vielzahl der Forschungs- und Reformprojekte, die hier selbstverständlich nicht alle einzeln vorgestellt werden können, ragt das visionäre Programm Vinzenz Bernhard Tscharners heraus, der als aufgeklärter ökonomischer Patriot ein Konzept für die OeG entwickelte: Die OeG sollte nützliches Wissen vermitteln und so die Landwirtschaft leistungsfähiger machen. Damit würde der Allgemeinheit und dem Vaterland gedient. Denn der Staat, so seine Annahme, gewänne ein stabileres Fundament, wenn er durch eine florierende Landwirtschaft eine wohlhabende Untertanenschaft erhielte. Steigende Staatseinnahmen und eine machtvolle Armee seien die Folge (S. 75–78, André Holenstein). Er entwickelte damit das Konzept einer «politischen Ökonomie».

Einzelne Projekte tangierten schliesslich die bestehende Ordnung. Sie zeigen die engen Grenzen auf, welche dem Reformwillen der OeG gesetzt waren. Georg Ludwig Schmid, den Béla Karpossy porträtiert (S. 59–62), stammte aus der Elite des Untertanenstädtchens Aarau und entwarf in seinen «Betrachtungen über den Landbau», die im Publikationsorgan der OeG erschienen, ein wirtschaftspolitisches Programm, das die Landwirtschaft einer Nation in den Dienst ihrer politischen Unabhängigkeit stellte. Er forderte Landwirtschaftsakademien zur Forschung und zur Ausbildung der Landwirte. Zugleich postulierte er staatliche Rahmenbedingungen, die den Bauern eine gerechtere Teilhabe an dem von ihnen erwirtschafteten Mehrwert sichern sollten (S. 62). Auch die Pläne zu einer gezielten Politik der Allmendteilungen, wie sie Emanuel von Graffenried entwickelte, hätten rigorose Eingriffe in die praktisch autonomen Gemeinden mit sich gebracht, vor welchen die Berner Obrigkeit zurückscheute (S. 91–94, Regula Wyss), die eher eine Politik des Vermittelns und Austarierens der dörflichen Interessen anstrebte und nur subsidiär tätig werden wollte. Besonders «revolutionär» erschien der Obrigkeit die Abhandlung des waadtländischen Pfarrers Jean-Louis Muret über die Bevölkerung der Waadt (S. 95–98, Christian Pfister). Er spürte dem allenthalben im öffentlichen Bewusstsein präsenten Gespenst der Entvölkerung nach, indem er in seiner 270-seitigen Untersuchungen die Volkszählung von 1764 und Zeitreihen der Taufen, Eheschliessungen und Sterbefälle aus 46 Kirchengemeinden, die er für typisch erklärte, auswertete– eine frühe demographische Studie, die sogar in die Abhandlung von Robert Malthus Essay on the Principle of Population einfloss. Diese Nutzung von arkanem Material und die angedeutete Forderung nach Verbot des Reislaufens waren für die Obrigkeit ein Angriff, die deshalb die Gesellschaft massregelte. Sie spürte, wie Christian Pfister sagt, «dass die Gesellschaft dem politischen System der Republik eine schlechtes Zeugnis ausstellte» (S. 97).

Nach einer durch die Helvetik 1798–1803 und die folgende Zeit von Mediation und Restauration bedingten Unterbrechung wurde die Gesellschaft 1822 wieder gegründet. In den Skizzen zum 19. und 20. Jahrhundert dominieren dann die Kunst- und Industrieaustellungen der Gesellschaft sowie die Bemühungen um Landwirtschaftsschulen, also um die Verwissenschaftlichung der Ausbildung. Damit wird die im 18. Jahrhundert angelegte Modernisierung des landwirtschaftlichen Denkens weitergeführt (zur kantonalen Landwirtschaftsschule Rütti S. 171–174, Daniel Flückiger). Die 1892 in OGG umgetaufte Organisation wurde – nun auch vom Mitgliederbestand her – zu einer bäuerlichen Organisation mit

einer neuen Funktion als Bildungsinstitution (S. 187–190 u.ö. zu landwirtschaftlichen Schulen, Peter Moser und Daniel Flückiger). Eingebettet sind die Skizzen in eine Geschichte der Institution (S. 13–55, Martin Stuber, Peter Moser, Gerrendina Gerber-Visser, Christian Pfister) auf ihrem Weg von der Reformsozietät zum Landwirtschaftsverein. Eine Bibliographie, eine Skizze des Forschungsstandes und ein Personenverzeichnis runden den gelungenen und im Sinne der Aufklärung sehr «nützlichen» Band ab.

Zitierweise:
Heinrich Richard Schmidt: Rezension zu: Martin Stuber, Peter Moser, Gerrendina Gerber-Visser, Christian Pfister, Dominic Bütschi (Hg.): Kartoffeln, Klee und kluge Köpfe. Die Oekonomische und Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Bern OGG (1759–2009). Bern/ Stuttgart/Wien, Haupt Verlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 347-350